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MACHT MEHR MUSIK
Wer ein Instrument lernt, kommt besser durchs Leben. Aber warum nur weiß unsere Gesellschaft das Glück des Musizierens nicht mehr zu schätzen?
VON SARAH SCHELP
Musikhören ist die liebste Freizeitbeschäftigung der 12- bis 25-Jährigen, so steht es in der Shell-Studie, die die Interessen und das Wertebewusstsein junger Menschen untersucht. Überall tragen sie Musik mit sich herum, die Kopfhörerknöpfe im Ohr und den MP3-Player in der Jackentasche. Doch merkwürdig: In der Schule ist Musik kein Lieblingsfach. Weit hinten rangiert es in der Wertschätzung der Schüler. Ein Laberfach. Nicht so wichtig. Viele Schüler wissen gar nicht, wie guter Musikunterricht sein könnte. An den Grundschulen in Deutschland fallen nach Erhebungen des Verbands Deutscher Schulmusiker 82 Prozent der Musikstunden aus oder werden von fachfremden Lehrern gegeben. Manchmal müssen Mütter mit Gitarrenkenntnissen einspringen, damit die Kinder ein paar Lieder lernen. An den Haupt- und Realschulen liegt die Ausfallquote bei 63 Prozent und an Gymnasien bei 36 Prozent. Musik läuft eben nur nebenher. Sie droht aus dem Bildungsbewusstsein unserer Gesellschaft zu verschwinden – unter der Dauerbeschallung der MP3-Player.
Dabei ist es längst kein Geheimnis mehr, wie sehr Musik die Entwicklung des Menschen fördert. Der renommierte amerikanische Kognitionspsychologe Howard Gardner etwa hat eine Intelligenztheorie entwickelt, die auch emotionale und soziale Fähigkeiten einschließt. Er hält die musikalische Intelligenz für eine der wichtigsten Teilintelligenzen des Menschen. Die Welt der Töne befähigt Kinder, ihre Umgebung besser zu verstehen und sich anderen mitzuteilen. Musizieren lässt die Verbindungen zwischen den Nervenzellen beider Gehirnhälften besser wachsen, fördert Konzentration und Kommunikation. Dabei, so ergaben wissenschaftliche Studien, ist es besonders wichtig, selbst aktiv zu werden, zu singen, ein Musikinstrument zu spielen. Passives Konsumhören bringt nur wenig. Kinder, die ab dem sechsten Lebensjahr kontinuierlich zwei Stunden Musikunterricht in der Woche haben, dazu ein Instrument lernen und es in einem Ensemble spielen, könnten nach drei Jahren ihre Intelligenzleistungen und vor allem das räumliche Vorstellungsvermögen verbessern, folgert der Musikpädagoge Hans Günther Bastian aus einer Langzeitstudie an Grundschülern. Sie seien aufnahmefähiger, sozial kompetenter und selbstbewusster als unmusikalische Gleichaltrige. In Folgestudien wurden Bastians Beobachtungen bestätigt, auch kontrovers diskutiert. Mit Musikunterricht lassen sich zwar keine besseren Menschen schaffen, sicher jedoch Eigenschaften und Begabungen vertiefen, die schon angelegt sind. Es gibt viele musische »Transfer-Effekte«, aber vor allem soll Musikunterricht den Kindern Spaß machen, da sind sich die Forscher einig. Dann macht Musik besonders glücklich, wie unter anderem der Neurowissenschaftler Vinod Menon und der Psy-chologe Daniel Levitin an der Universität Stanford untersucht haben: Gern gehörte Melodien stimulieren Regionen im Gehirn, die dafür zuständig sind, den Körper mit angenehmen Gefühlen zu »belohnen«.
Trotz solcher wissenschaftlichen Erkenntnisse hat es die Musik nicht erst seit dem Pisa-Schock in Deutschland schwer, gegen »harte« Fächer wie Mathematik anzukommen. Was zählt, ist Leistung, und die ist im Musikunterricht schwer messbar. Mit ein bisschen Musik komme keiner dem Abitur näher, so der verbreitete Irrtum. Deshalb tobt an den allgemeinbildenden Schulen wie in der ganzen Gesellschaft ein akademischer Grabenkampf zwischen den schönen, aber scheinbar nutzlosen Künsten und den Naturwissenschaften, auf die es vermeintlich viel mehr ankommt. Der Deutsche Musikrat hat vor drei Monaten einen so genannten Berliner Appell an den Bundespräsidenten Horst Köhler gerichtet, der zweite in drei Jahren – ein Notruf. In ihm wird vor der weiteren Vernachlässigung des Musikunterrichts gewarnt. Jedes Kind müsse, »unabhängig von seiner sozialen und ethnischen Herkunft, die Chance auf ein qualifiziertes und breit angelegtes Angebot musikalischer Bildung erhalten, das die Musik anderer Ethnien einschließt«.
Vorschläge für bessere musische Bildung sind nicht neu: Schon der reformerische Musikpädagoge Leo Kestenberg kämpfte in den zwanziger Jahren um zwei Wochenstunden Musikunterricht in den Klassen 1 bis 10, damit die Kinder ein Musikinstrument lernen können. Eine Stundenzahl, die sinnvoll erscheint, aber bis heute bundesweit nirgendwo kontinuierlich unterrichtet wird. Im Gegenteil: Bei Stundenmangel werde das Fach häufig ganz gestrichen, beklagt der Schulmusikerverband, wovon Grund- wie weiterführende Schulen gleich stark betroffen seien. Und Musik wird mit Kunst oft im Wechsel halbjahresweise unterrichtet.
Doch nicht nur die Musikstunden sind knapp, es mangelt auch an Fachlehrern. Interesse allein genügt nicht, um Schulmusik zu studieren. Wer die Zulassungstests an den Hochschulen bestehen will, muss mindestens ein Instrument auf höchstem Niveau beherrschen, Klavier spielen, vorsingen und fit sein in Gehörbildung, Tonsatz, Theorie. Viel zu anspruchsvoll, finden Kritiker der Ausbildung, schließlich wolle man keine Meistersolisten ausbilden, sondern motivierte Lehrer mit Spaß an der Sache. Hinzu kommt, dass die Arbeit im Schuldienst nicht verlockender geworden ist, seit in Hamburg etwa ein neues Arbeitszeitmodell eingeführt wurde: Musiklehrer müssen nun mehr Stunden geben als ihre Kollegen in Hauptfächern wie Mathematik oder Deutsch, wenn sie genauso viel verdienen wollen. Mag sein, dass in Mathematik mehr Korrekturen anfallen, aber in den Köpfen vieler Musiklehrer kommt die Botschaft an: Eine Stunde Musik ist weniger wert als eine in Geometrie.
Es ist schick, Kulturnation zu sein, das Land namhafter Konzertsäle und der Berliner Philharmoniker, die Heimat weltberühmter Komponisten wie Beethoven und Bach. Ob das trotz der desolaten musischen Ausbildung so bleibt, wollen die Kulturinstitutionen nicht mehr abwarten. Sie haben verstanden: Wer als Kind klassische Musik nicht genießen lernt, geht später auch nicht in La Traviata. Immer mehr von ihnen kooperieren mit Schulen und ersinnen didaktisch wertvolle Promo-Aktionen, um den Nachwuchs zu gewinnen. An den Orchestern und Opernhäusern ist in den letzten Jahren ein regelrechter »Education«-Rummel ausgebrochen.
»Oper.Über.Leben« heißt vielsagend eines dieser Projekte, mit dem die Bayerische Staatsoper den Musikunterricht an Hauptschulen im Freistaat bereichern will. Musiker des Ensembles erklären als »Orchestertutoren« den Schülern eine Oper und besuchen dann mit ihnen gemeinsam eine Aufführung. Ein rares Kultur-Bonbon für die Hauptschüler. Denn seit die Kultusministerkonferenz die Vereinbarung aufgehoben hat, Musik in der Sekundarstufe I als Pflichtfach zu unterrichten, ist es vielerorts nur mehr Wahlpflichtfach – und die Schüler wählen es in der siebten Klasse ab. Noch trostloser ist die Situation an den Sonderschulen: Es gibt Einrichtungen, die seit 20 Jahren vergeblich auf einen Fachlehrer für Musik warten.
Dabei ist für Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern die Schule oft der einzige Zugang zur Musik. In der fünften Klasse, so erzählen Lehrer aus Haupt- und Sonderschulen, habe ein Großteil ihrer Schüler nie bewusst klassische Musik gehört, geschweige denn selbst musiziert. Aber in den Genuss des bayerischen Staatsopernprojekts gelangen pro Jahr gerade mal vier Hauptschulklassen. Auch die spätestens seit dem Kinofilm Rhythm is it! boomende Musik-Eventkultur an Problemschulen erreicht selten mehr als 100 Schüler auf einen Schlag. In Deutschland gehen aber derzeit rund 9,5 Millionen Kinder und Jugendliche in die Schule – und das nicht projektwochenweise, sondern jeden Tag. Aktionen wie Oper.Über.Leben, die School-Tour der Deutschen Phono-Akademie oder das Education-Programm der Berliner Philharmoniker können den regulären Musikunterricht nicht ersetzen. Sie sind trotz gut gemeinten Engagements nicht mehr als Appetithappen, die das eigentliche, vornehmlich strukturelle Problem ungewollt kaschieren. Diese »Events« – von den Politikern mit viel Applaus bedacht – bleiben oft nur schillerndes Versprechen auf ein Leben mit Musik.
An den rund 940 gemeinnützigen Musikschulen sieht es nämlich nicht viel besser aus als an den allgemeinbildenden Schulen: Subventionen werden gekürzt, folglich gibt es zu wenige Musiklehrer und mitunter Wartezeiten von mehreren Jahren, bis ein Kind mit dem Instrumentalunterricht beginnen kann. Gut eine Million Schüler musizieren hier, eine Zahl, die seit über zehn Jahren stabil geblieben ist. In der Regel werden nicht 30 Prozent, wie im Idealfall geplant, sondern über 45 Prozent der anfallenden Kosten über die Unterrichtsgebühren der Eltern bezahlt. Die Monatskosten für einen wöchentlichen, 45-minütigen Einzelunterricht schwanken an den gemeinnützigen Musikschulen je nach Region. In Ludwigslust/Mecklenburg-Vorpommern etwa betragen sie 57 und in Stuttgart 81 Euro. Ein Instrument zu lernen wird für Eltern mit Durchschnittseinkommen so rasch zum unerschwinglichen Luxus.
Er habe, erzählt Christian Höppner, der Generalsekretär des Deutschen Musikrats, bei einem Musik-Education-Projekt zwei türkische Schüler kennen gelernt, die nach anfänglicher Distanz begeistert mittanzten und sangen. Als das Projekt vorüber war, wollten sie weitermachen. »Die Musikschule in ihrem Bezirk hat sie dann auf die Warteliste gesetzt«, sagt Höppner. In zwei Jahren vielleicht, wurde den Jungen gesagt, könnten sie mit ihrer Musikbegeisterung wiederkommen. Wenn sie dann noch da ist.
(c) DIE ZEIT 30.11.2006 Nr.49